//

Social Media – ich sehe was, was du nicht siehst

4 mins read

bu-vid

„Der moderne Mensch hat sich mit einem lächerlich unrealistischen Selbstbild ausgestattet.“ Schön, erfolgreich, gutherzig, intelligent, schlagfertig, hochbegabt – wer schreibt sich nicht gern diese und ähnliche Eigenschaften zu? Dank Facebook & Co. dürfen wir uns neu erfinden, projizieren, präsentieren, promoten. Doch wann wird aus Facebook Fakebook? Text: Nina Meyer / Foto©Marc Köschinger

Wo Gene vermeintlich versagten, hilft ein kleiner Filter über dem Smartphone-Selfie, und schwupps: 50 neue Likes für die digitale Socke im Ausschnitt: Sexy! Das virtuelle Ego ist die Interpretation unseres Spiegelbildes, welches wir realistischer als das Original wirken lassen. Nebenerscheinungen: Es entwickelt eine eigene, narzisstische Persönlichkeit, die uns allmählich die Fähigkeit stiehlt, für den realen Alltag bedeutende Werte zu kultivieren. Was macht uns bereit, für einige Klicks die Realität zu verraten?

Social Media – Wer auch immer denkt, er finde hier Hinweise auf einen authentischen Charakter. Bezweifeln Sie es. Es scheint eher, genau das Gegenteil.

Jedes Like bricht in unserem Körper hormonelle Ergüsse los:
Prompt schütten Nervenzellen Botenstoffe des Glücks, der Stärke und Zufriedenheit aus. Wer sich bisher nur selten über Lob freuen durfte, findet auf den Social Media Plattformen Streicheleinheiten für die Seele. Nach Prof. Dr. med. Joachim Bauer aus Freiburg(Breisgau), welcher seine Aussagen auf aktuelle neurologische Studien stützt, aktiviere nichts das Motivationssystem so sehr wie die soziale Anerkennung von Seiten anderer. Unser Gehirn giere danach. »Alles, was wir tun, steht im Dienste des tiefen Wunsches nach funktionierenden zwischenmenschlichen Beziehungen« , so Bauer.
Und doch resultiert daraus ein paradoxes Phänomen, das bestehende Zweisamkeit zerstört: Moralische Hemmschwellen lösen sich auf. Schamloses Verhalten im virtuellen Raum gilt als häufig auftretender Scheidungsgrund. Nicht nur, dass der eigene Marktwert ständig verglichen und getestet wird, auch körperliche Argumente der oder des Liebsten gelten längst nicht mehr als verhüllenswert, sondern vielmehr als Statussymbol. In den Schlafzimmern läuft hingegen zunehmend weniger – denn die Bettgefährten amüsieren sich lieber online.

In den USA liegen nach Studien der American Academy of Matrimonial Lawyers Eheverträge mit Social-Media-Klausel bereits im Trend. Schnell kostet ein Online-Vergehen am eigenen Partner 50.000 Dollar.

Waren Sie auch offline nie offen, so können Sie es online sein: Verwandeln Sie sich heute in einen Mann, morgen in eine Frau, übermorgen in eine/n Trans-Gender/in – um einmal, ganz dem politisch korrekten Zeitgeist folgend – neue Varianten Ihres Selbst zu erfahren. Spionieren Sie die intimsten Gedanken Ihrer Lebenspartner oder Freunde aus! Manipulieren Sie jene, die Ihnen im >echten< Leben vertrauen und erweitern Sie radikal die Grenzen des freundlichen Miteinander! Die maximale Transparenz und Handlungsfreiheit erhalten Sie durch weitere Accounts und Pseudonyme. Da Werbepartner nicht verprellt werden sollen, gibt Facebook ungern zu, dass zahlreiche Profile doppelt und dreifach vorhanden sind, die selten genutzt werden und frei erfundene Inhalte aufweisen.

Ist das der information-overload?



Ob Sie nun als Missionar, Verschwörungstheoretiker, Politiker, begnadeter Autor, Geschäftsinhaber, Extraterrestrier oder Sexsymbol durchstarten möchten – wichtig ist, dass Sie eine möglichst authentische Form der Selbstdarstellung finden, gleichzeitig aber Aspekte Ihrer Identität verschweigen, die Ihrem Ich-Ideal widersprechen – kurz: Alles, wofür Sie bisher gemobbt wurden, ist tabu. Nach einigen Monaten schon wird Ihr Gehirn durch den Zuspruch neuer Freunde umstrukturiert sein.

Blockieren Sie jeden unangenehmen Kritiker! Erfolgserlebnisse, also hohe Klickzahlen, machen Sie zum Star.

Holen Sie sich Bestätigung! Rund um die Uhr! Überall! Kompensieren Sie mit Ihrem virtuellen Über-Ich alle Eigenschaften, die Sie bisher schmerzlich an sich selbst vermissen mussten! Nur so düngen Sie den Größenwahn, den Träger geheimer Fantasien. Bezüglich einer neuen Weltordnung etwa.

Nehmen wir uns ein Beispiel: Ariane „Lichtarbeiterin“, Jahrgang 1959, Ausbildung: Schule des Lebens. Vertreten bei Facebook, Twitter, Youtube und Xing. Schon als Kind medial begabt. Heiligenbilder, Weisheiten des Buddha und Empfehlungen für die private Hexenküche postet sie für das esoterische Zielpublikum. Über ihr Profil bietet sie Dienstleistungen an: Die Beratung kranker und verzweifelter Menschen, die jedes Quäntchen Hoffnung ergreifen würden. Anfangs gratis, um als besonders altruistisch zu gelten, später gegen den Betrag von € 69,- pro Konsultation. Zudem bewirkt sie Fernheilungen über das Telefon. Während des Bügelns per Freisprechanlage. Mittlerweile kann sie das Wunder der Heilung auch per Email versenden – natürlich nur in Ausnahmefällen. Ihr Geschäft boomt, denn Social-Media-Plattformen schlagen täglich neue potentielle Patienten vor. Sind die ersten 1000 Jünger eingesponnen, lassen sich hervorragend Seminare verkaufen. Sie sehen: Soziale Medien retten Leben, bieten eine effektive Werbeplattform, schaffen Arbeitsplätze, machen Träume wahr – und auch Sie zum Jesus. Obwohl Ariane soeben frei erfunden wurde.

Auf sozialen Media geben wir uns – wie wir uns selbst noch nie gesehen haben. Selbst, das wir sein wollen, und an das wir auf lange Sicht beginnen zu glauben.

Wir verlieren zumindest nach aktuellen Studien an Charisma, Konzentrationsvermögen, Respekt, Sozialkompetenz, Selbstwertgefühl, Empathie, intakten Beziehungen und sogar Potenz. Was innerhalb des Netzwerkes einwandfrei funktioniert, muss für das reale Leben erst wieder erlernt werden. Das beweisen Experimente um die Erkennung von Emotionen in Gesichtern. Hier schnitten Schüler deutlich besser ab, nachdem sie einige Wochen ohne internetfähige Technik in einem Camp verbrachten. Das gesunde Hirn passt sich nachweislich den Lebensumständen seines Trägers an. Die Meinungen, ob dies positive oder negative Folgen für unser Denkorgan hat, könnten unterschiedlicher nicht sein. Was aber bedeutet diese Entwicklung für >Digital Natives<? Was werden die Konsequenzen unserer körperlichen und geistigen Abspaltung von der eigenen Natur sein? Müssen wir das Wort >Identität< neu definieren?

Kommen wir zum Problem der Informationsflut, ein wichtiger Faktor auch bezüglich des Burn-Out-Syndroms. Schauen wir uns hierzu unseren FußbalI-Verein FC Köln an:

Für Fans gab es früher die Sportschau, Trikots und Bettwäsche – sie konnten zum Training gehen. Heute jedoch stehen rund um die Uhr digitale Informationen über den Verein zur Verfügung, sogar der Zeugwart twittert regelmäßig für die Öffentlichkeit. Wer sich als treuer Fan erweisen, also ständig up-to-date sein möchte, provoziert Streit in Partnerschaft und Familie. Aus Zeitmangel.

Wirtschaftlich betrachtet dürften sich Coaches und Psychotherapeuten, die sich auf zwischenmenschliche Kommunikationsformen jenseits des Internets spezialisiert haben, über eine wachsende Auftragslage freuen. Vielleicht können wir bestimmte Entwicklungen nicht vermeiden, indem wir andere forcieren. Aber lohnt es sich nicht, Maßnahmen umzusetzen, die uns einen Funken der Intelligenz über eitle Triebe hinweg retten lassen? Wie wäre es mit einer Facebook- und Smartphone-Pause?

About The Author

Schreibe einen Kommentar

Latest from Blog

Ruine oder Lost Place

In den socialmedia-Kanälen laufen regelrechte battles, wer als erste, wo und wie Zugang zu einem „Lost

Entdecke mehr von Seconds

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen