von Bettina Johl
Nach einer Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2011 sind 7,5 Mio. Deutsch sprechende Erwachsene funktionale Analphabeten, was bedeutet, sie können „nur so eingeschränkt lesen und schreiben, dass sie von voller selbstständiger gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen sind, bzw. häufig auf Unterstützung angewiesen sind.“ In der öffentlichen Diskussion werden oft die elektronischen Medien als für diesen Umstand mit verantwortlich genannt. In den Familien fehle es zudem zunehmend an Zeit, zu lesen oder Kindern vorzulesen.
Verdrängen die neuen Medien das Buch als solches? Vieles deutet darauf hin. Elektronische Medien stehen für schnellen Informationsgewinn, Konsum und raschen Wechsel zwischen Informationsquellen. Der Ausbildung der Fähigkeit, sich auf einen Text über längere Zeit zu konzentrieren, sich intensiver damit zu befassen und sich hineinzuvertiefen, ist dies nicht unbedingt zuträglich. Andererseits haben wir es hier mit keiner neuen Problematik zu tun. Bereits das Aufkommen des Fernsehens vor rund sechzig Jahren dürfte sich auf das Leseverhalten der Menschen deutlich ausgewirkt haben, zumal mit einer immer größer werdenden Anzahl an verfügbaren Programmen rund um die Uhr. Menschen, denen es in jungen Jahren nicht gelang, Zugang zu Büchern zu finden, ist es seit vielen Jahrzehnten möglich, auf andere Informations- und Unterhaltungsmedien auszuweichen, während passionierte Leserinnen und Leser gegen die Verlockungen des Fernsehens eher immun zu sein scheinen. Durch vielfach langjährige Gewöhnung an das Lesen als aktive Betätigung, empfinden sie die erzwungene Passivität des Fernsehkonsums womöglich eher als langweilig.
Eben dieser passive Medienkonsum, den das Fernsehen mit sich bringt, schien mir stets das größere Problem darzustellen.
Es betraf in noch stärkerem Maße die Kinder von einst, die heute selbst Eltern sind und sich im günstigen Fall Gedanken über die Medienerziehung ihrer eigenen Kinder machen. Denn die Kinder von heute sind keineswegs die erste „Neue-Medien-Generation“. Sie sind Kinder einer Generation, die ebenfalls maßgeblich von elektronischen Medien geprägt ist. Dies könnte unter Umständen bedeuten, dass das Fehlen des Zugangs zum Lesen in vielen Familien eine längere Tradition hat.
Insofern lässt das Internet als noch neueres Medium eher Hoffnung schöpfen. Gegenüber dem jahrzehntelang jegliches Familienleben prägenden Fernsehen, das sich im „In-den-Kasten-gucken“ erschöpfte, wobei mit dem vorliebgenommen werden musste, was vorgesetzt wurde, bietet das moderne Internet ungezählte Möglichkeiten, sich einzubringen und es aktiv mitzugestalten. Und es setzt grundsätzlich Lesekompetenz voraus. Ohne diese ist seine Nutzung nur sehr eingeschränkt möglich. Mit dieser jedoch bietet es eine unerschöpfliche Quelle von Informationen, die ohne zusätzliche Kosten genutzt werden können, und zu der wiederum jeder Einzelne mit beitragen kann, indem er eigene Beiträge anderen zur Verfügung stellt.
Immer wieder einmal gab es in der Vergangenheit Berichte über Menschen, die nach Möglichkeiten suchten, weniger von Geld als dem vorherrschenden Zahlungsmittel abhängig zu werden, die alternative Lebensgemeinschaften gründeten und Tauschbörsen oder Hilfsdienste auf Gegenseitigkeit einrichteten. Unter einem solchen Gesichtspunkt betrachtet ließe sich das Internet mit einer virtuellen Tauschbörse vergleichen, in die sich jeder nach seinen Möglichkeiten einbringt, und bei der es natürlich weiterhin möglich ist, auch bezahlte Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen.
Der Lesefreude an sich muss das World Wide Web keinen Abbruch tun. Im Gegenteil.
Es ist eine unerschöpfliche Quelle für literarisch interessierte Menschen aus aller Welt, ein Treffpunkt für Lese-Begeisterte, zudem eine Fundgrube für Bücher und eine Plattform für Autorinnen und Autoren mit allen nur denkbaren Vernetzungsmöglichkeiten über die sozialen Netzwerke. Diese spielen in der virtuellen Kommunikation eine immer bedeutendere Rolle. Sie stehen andererseits nicht zu Unrecht in der Kritik, die Privatsphäre von Menschen für Werbe- und Überwachungszwecke zu missbrauchen. Die Diskussion hierüber ist noch nicht zu Ende und muss weiterhin geführt werden. Dem Datenschutz und der Sicherheit der Nutzer muss durch wirksame internationale Übereinkünfte und rechtliche Vereinbarungen Rechnung getragen werden.
Ich selbst wage jedoch die These, dass auch das Verständnis von Öffentlich und Privat in einer Gesellschaft einem zeitlichen Bewusstseinswandel unterliegen könnte, dass somit das Private womöglich sehr viel „öffentlicher“ und damit auch von sehr viel größerer politischer Bedeutung ist, als wir es uns jahrelang eingestehen wollten. Unbestritten ist, dass sich Menschen, die sich öffnen, auch verletzbar machen. Die Frage ist nur: Sind Menschen, die sich nicht öffnen, weniger verletzbar? Sind sie glücklicher? Fühlen sie sich wirklich sicherer? Eine Frage, über die zu forschen es sich lohnen würde. Auf der anderen Seite sehe ich in den gegenwärtigen Gegebenheiten eine große Chance. Menschen, die sich öffnen, werden offen für andere. Sie treffen überall auf der Welt Menschen, von denen sie feststellen, dass sie gar nicht so verschieden von ihnen selbst sind und sehr ähnlich „ticken“. Die Möglichkeit, dass Menschen aus unterschiedlichen Teilen der Welt miteinander ins Gespräch kommen, sich austauschen und bei sich und ihrem Gegenüber nicht wenige Gemeinsamkeiten feststellen, birgt für mich trotz aller Risiken, die stets mit dem virtuellen – und auch dem nicht-virtuellen! – Zusammentreffen von Menschen verbunden sind, eine Chance zum Abbau von Feindbildern und einem vielleicht künftig einigeren und friedlicheren Miteinander. Denn wenn überhaupt auf diesem Planeten Frieden möglich werden kann, dann über die vielfältigen Wege der Verständigung und Kommunikation, die neue Medien bieten. Und deshalb gilt es, sie sinnvoll zu nutzen, statt sie zu verteufeln.
Der Umstand, dass Menschen in sozialen Netzwerken vielfach ein Idealbild von sich erstellen, muss nicht unbedingt Sorge bereiten; hierzu bieten Menschen, die sich diese Mühe nicht machen, viel eher Anlass. Das Entwerfen eines idealen Selbstbildes im eigenen Profil hingegen bringt ein Sich-Auseinandersetzen mit der eigenen Person mit sich, was durchaus zu dem Bestreben führen könnte, sich seinem Idealbild zumindest mehr und mehr anzunähern, ihm ähnlicher zu werden. Manifestierte Lebenslüge also – oder ebenfalls Chance? Dies liegt in der Hand jedes einzelnen Menschen selbst.
Unabhängig von diesen Überlegungen steht die besondere Schutzbedürftigkeit von Kindern und Jugendlichen, der auch im Netz Rechnung getragen werden muss. Denn Kinder sind in der Tat im Netz – und nicht immer sind sie es in Begleitung ihrer Eltern oder anderer erwachsener Bezugspersonen. Es lässt sich nicht wirksam verhindern, dass Kinder ins Internet gehen. Die Frage ist, wie sie es tun. Ob sie vorbereitet sind, seine Nutzungsmöglichkeiten, Chancen und Gefahren kennen und ob sie sich dort sicher bewegen. Wir lassen unsere Kinder ab einem gewissen Alter auch in die Stadt gehen und diese erkunden, und bringen ihnen vorher selbstverständlich nahe, dass man dort nicht jedes Haus betritt und sich auch nicht von jedem anquatschen lässt, geschweige denn mit Fremden mitgeht. So unsicher wie die Welt ist, in die wir sie eines Tages doch entlassen müssen, ist leider auch das Netz. Durch die einfache Möglichkeit des Mausklicks ist es allerdings leichter, dort Gefahren zu erliegen. Deshalb ist es doppelt wichtig, die Kinder aufs virtuelle Leben vorzubereiten und sie dafür fit zu machen. Die Erfahrung zeigt: Wenn wir unseren Kindern keine Medienkompetenz vermitteln, können wir sie nicht dauerhaft schützen. Schon gar nicht durch Verbote. Dem Erwerb von Medienkompetenz sollte deshalb in den Bildungs- und Lehrplänen ein höherer Stellenwert zukommen.
„Und die Bücher?“ So fragen wir jetzt einmal mehr besorgt.
Die Erfahrung jedoch zeigt, dass schon sehr kleine Kinder sich lebhaft für Bücher interessieren, wenn sie die Chance haben, von ihnen umgeben zu sein. Sie erforschen sie mit allen Sinnen, zeigen Interesse an Bildern und alsbald auch an Schrift. Sie stellen Fragen, lassen sich erzählen und fordern das Vorlesen ein. Sie sind hochmotiviert, das Lesen zu lernen, und stolz, wenn erste eigene Lese- und Schreibversuche zum Erfolg führen. Wann also geht ihnen dies verloren? Wer verdirbt es den Kindern? Die Schule? Wir als Erwachsene? Die „Gesellschaft“? Darüber ließe sich gewiss lange debattieren. Ebenso jedoch könnten wir uns einige Fragen stellen.
Haben unsere Kinder in uns Lesevorbilder? Finden sie Erwachsene, mit denen sie ihre Leseerlebnisse teilen können? Oder kommt für sie irgendwann der Zeitpunkt, an dem sie Lesen und Schreiben nur noch mit Schule und Leistungsdruck in Verbindung bringen?
Welche Haltung vertreten die „Großen“ im Hinblick auf das Lernen? Ist es ihnen selbst für ihr ganzes Leben von Bedeutung? Oder vermitteln sie den Kindern am Ende das Gefühl, Lernen sei nur etwas für die Schule, ein Prozess, der mit dem Erwachsensein endet?
Und welche Resonanz erfahren Kinder auf erste Versuche, sich schriftlich auszudrücken? Ähnlich wie Kleinstkinder das Sprechen eines Tages wieder einstellen, wenn kein ihnen freundlich zugewandtes Gegenüber auf sie reagiert und antwortet, ihr Gesagtes bestätigt und sie zum weiteren Sprechen ermutigt, wird auch Schriftsprache, die keine Resonanz erfährt, schnell wieder verkümmern. Denn wie mündliche ist auch schriftliche Sprache Kommunikation. Ohne diese verliert sie ihren Sinn!
Für den kreativen Umgang mit schriftlicher Sprache bietet das Internet abermals neue Möglichkeiten. Junge Leute gestalten Blogs, schreiben über ihre Themen, verbreiten ihre Ideen, finden Gleichgesinnte, diskutieren mit. Wie reagieren wir darauf? Finden wir es unbequem? Sehen wir gar unseren eigenen eingefahrenen Medienkonsum-Trott dadurch gefährdet?
Vorbilder prägen. Kinder brauchen lesende Vorbilder; sie brauchen Erwachsene, die das eigene Lesen und ihren selbstverständlichen Umgang mit Büchern zum Thema machen.
Je mehr sie in ihren Lebensbereichen von solchen umgeben sind, desto größer ist die Chance, dass sie deren Haltung übernehmen werden und im Weiteren motiviert sind, sich die Welt der Bücher als ihre eigene zu erschließen.
Ebenso brauchen Kinder Erwachsene mit einer positiv gelebten Grundhaltung zum Lernen, die sich eingestehen, längst noch nicht alles zu können und zu wissen. Erwachsene, die sich selbst als lebenslang Lernende wahrnehmen und bereit sind, sich hier und da gemeinsam mit den Kindern auf den Weg zu machen, und dieser muss sich nicht allein auf die ausgetretenen Pfade beschränken, die von der Schule vorgegeben sind!
Kinder brauchen überdies Erwachsene, die ihre frühen Versuche des Ausdrucks in schriftlicher Form bestätigen und würdigen, statt sich sofort darin auf Fehlersuche zu begeben. Einen Text weiterzuentwickeln, damit er noch besser wird, wäre dann lediglich der nächste – möglicherweise gemeinsam begangene – Schritt, bei dem beide etwas lernen könnten.
Und im Weiteren brauchen Kinder Erwachsene, die sich selbst sicher, kompetent und kritisch in der Medienlandschaft bewegen und ihnen begleitend Orientierung geben. Die vielleicht auch bereit sind, von ihren Kindern etwas zu lernen in Bereichen, in denen diese längst fitter als die Großen. Und nicht zuletzt ermöglicht auch das Internet den Austausch über Bücher!
Das Leben in einer multimedialen Gesellschaft braucht Offenheit und Raum für eine Vielfalt von Ausdrucksformen. Es muss darin Platz sowohl für Bücher und Gedrucktes als auch für virtuellen Austausch geben. Ein ängstliches Sich-Abschotten gegenüber modernen Kommunikationsmitteln nützt niemandem, ein unkritisches Konsumieren derselben ebensowenig. Im gemeinsamen Lernen und im Ausbilden von Urteilskraft und Bewertungskompetenz sitzen zwischenzeitlich mehrere Generationen im selben Boot und können voneinander profitieren. Insofern eine so noch nie dagewesene Chance!