Die Kunst, Musik wirklich zu genießen, ist eine sehr individuelle Angelegenheit– VON OLAF JANSEN – In medias res! Wer in oder an einer Musikmetropole wie Köln beheimatet ist, der besitzt einen ungeheuren Vorteil gegenüber der Bevölkerung der landschaft- lich reizvollen Landbereiche: Er darf sich entscheiden, ob seine bevorzugte Musik vom Tonträger in der Sicherheit heimischer Gemütlichkeit erklingt oder ob das Gesamtpaket, das sogenannte Event eines Live-Konzertes lockt. Wer jetzt denkt, da werden Äpfel mit Birnen gemischt, das eine kann nicht gegen das andere konkurrieren, dem sei gesagt: Beide Möglichkeiten besitzen klare Vor- und Nachteile.
Einige Beobachtungen vorab: Fragen rund um die Musik sind immer ein heikles Thema. Denn jeder ist für sich selbst die absolut sichere Quelle für die Güte von Musik, sei es die Qualität der Wiedergabe oder auch die Kunstfertigkeit der Interpreten. Die Menschen besitzen sehr unterschiedliche musikalische, oft auch nur peripher damit verbundene Bedürfnisse, und sind diese befriedigt, dann ist die Musik spitze. Eine Gesellschaft, die sich in der Beschallung eigener Veranstaltungen durch Unterhaltungsmusik innerhalb weniger Jahrzehnte freiwillig vom Erlebnis einer Live-Band über den Alleinunterhalter zum Einsatz eines Dj`s verführen ließ, hat nichts anderes verdient, als in der gesamten Produktpalette der Tonträger nicht nur mit Wahrheiten konfrontiert zu werden.
Die Musik selbst verliert anscheinend im Eventbetrieb immer mehr an Bedeutung.
Das Erlebnis, mit zigtausend Besuchern den Auftritt eigener Heroen zu erleben, sei es in Stadien oder Mega-Hallen, wächst immer weiter. Selbst Schlagerfuzzis oder volkstümelnde Heilsbringer lassen Monsterzelte platzen. Es gibt Spatzen, die pfeifen mehrfach am Tag für die eigens angereisten Dumpfbackenmusik-Pilger, ohne auch nur einen Ton selbst zu spielen. Der Sound im Zelt kommt von der eingelegten CD, der Sound ist gut, denn – wie wir heute wissen – die CDs werden branchenüblich von Profi-Musikern eingespielt. Bei derartigen Veranstaltungen gilt es, als Fan einen Götzendienst abzuleisten, und das erfreut nicht nur die Menschheit seit tausenden von Jahren, es bringt auch etwas Licht in das Dunkel des Lebens und gibt Sicherheit. Leider unterscheiden sich die großen Pop- und sogar Rock-Events oft nicht wesentlich von diesen Seniorenfahrten, nur die Zielgruppe ist – manchmal unwesentlich – jünger. Es klingeln noch die Ohren von der Götterdämmerung beim Konzert der ewigen Stones, ob da wohl alles live zuging. Und von einer Band mit Millionenseller, einer Gruppe vom Rang der Manfred Mann Earth Band, ist bekannt, das ein Livealbum nach der Aufnahme aufwendig im Studio nachproduziert werden musste, weil besonders der Chef unhaltbar danebenlag. Das möchte der Musikfreund eigentlich gar nicht wissen, das sollte Metzgergeheimnis bleiben wie die gute Wurst; schon gegessen.
Gerade bei den großen Rock- und Popkonzerten entsteht manchmal der Eindruck, dass irgendwann über die Jahre der fußlahme Roady, dem die dicken Boxen zu schwer geworden sind, hinter dem Mischpult der Musikanlage landet. Meist sind die in diesem Geschäft heimischen Kräfte berufsbedingt halb taub, sodass immer ein schöner fetter Sound durch die Hallen wabert – was die meisten Gäste erfreut und irgendwie anturnt. Bei einer Veranstaltung mit einer angesagten Ethno-Folkjazzpop-Gruppe eines berühmten osteuropäischen Filmkomponisten, deren zackige Titel wesentlich von einem martialisch trommelnden Schlagzeuger angetrieben wurde, fiel keinem Gast im Publikum auf, das von den Musikern auf der Bühne niemand Schlagzeug spielte; den würde ich als Chef auch einsparen, natürlich für alle Zeiten.
Von all´ diesen schönen Musikerlebnissen – die für viele Menschen zu Recht den absoluten Genuss ausmachen, weil sie damit zufrieden sind – berichte ich gerne, auch wenn ich damit das eigentliche Thema nur umschiffe. Aber wo höre ich wirklich noch die Musik pur?
Wie erwähnt existieren in der Stadt zwei Möglichkeiten: Die Heimanlage meiner Wahl lockt zu einem gemütlichen Stelldichein, ich selbst regele den Sound, je besser die Anlage, umso mehr Freude birgt der Tonträger. Gravierender Nachteil gegenüber dem Konzert: Es fehlen Atmosphäre und selbstverständlich die Bilder. Die mittlerweile obligatorischen DVDs mit eigenem Video zeigen meist filmische Effekte und reizvolle Bilder, die wenig mit der Musik zu tun haben. Und im Klassikbereich funktioniert nur der Bereich Opernverfilmung als eigenständiges Fach. Das Konzert bleibt aber unbelebt; Ausnahmen sind zu vernachlässigen.
Wirklichen Musikgenuss im Bereich der Klassik bietet also der Konzertsaal, könnte man meinen. Aber der sehr guten Akustik eines Raumes wie dem Konzertsaal der Kölner Philharmonie verdanken ja nicht nur die Töne der Musikinstrumente ungeteilte Aufmerksamkeit. Auch die Geräusche der Zuhörer, in diesem Fall bei gutem Besuch rund 2000 Menschen, werden schonungslos enthüllt und müssen genau so erlernt werden wie die Instrumentenfarben im Orchester. Nebeninstrumente: Wie Kastagnetten knackende Verschlüsse von Damenhandtaschen, oft im Kanon mit aufklappenden und zuschnappenden Brillenetuis, als Kontrapunkt ein lautstark entwickeltes Hustenbonbon, später akzentuiert von auf dem Boden aufschlagenden Programmheften, die sich den im Genuss erschlafften Händen entwinden. Hauptinstrumente: rollender Halsnasenrachenkatarrh, Knallhusten, Niesen, rückkoppelnd pfeifende Hörhilfen. Soloinstrument: Das Handy! Letztens hat sogar jemand das Gespräch angenommen. Andras Schiff, Megastar der Klassikpianisten, verließ nach einer Handy-Attacke schon wütend die Bühne und ließ sich nur mühsam zur Rückkehr zu seinem Publikum bewegen. Anfang Februar klingelten zwei Telefone erbarmungslos laut in seinem Konzert. Nach einem endlos scheppernden Rufton brach Schiff seine Sonate ab und sagte ins Publikum: „Hallo?“ Ich ziehe trotzdem das Live-Konzert vor. Aber ich kenne Musikliebhaber, die in Köln lieber zuhause Musik hören. So ist das nämlich mit dem Musikgenuss: Da ist jeder seines Glückes Schmied!