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Hegel reloaded – Mehr Entfremdung, bitte!

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Über Slavoj Žižeks neues philosophisches Werk „Weniger als nichts“ – Von Dieter Kaltwasser.

Laut Slavoj Žižek ist die Gruppe der Philosophen des Deutschen Idealismus, also Kant, Fichte, Schelling und Hegel, die „Mutter aller Viererbanden“. Das Enfant terrible unter den linken Theoretikern ist für seine steilen Thesen und gewagte Dialektik berühmt und berüchtigt. Er plädiert in seinem neuesten Werk sogar dafür, bei einen marxistischen Philosophen geradezu verstörend wirkend, von Marx zu Hegel zurückzukehren, denn unsere gegenwärtige Situation entspräche vielmehr der von Hegel als der von Marx. „Hegel im Schatten des dialektischen Materialismus“ lautet der Untertitel seines neuen Buchs „Weniger als nichts“. Hegel habe, so der Philosoph, sich in einer nachrevolutionären Situation befunden, Französische Revolution hatte sich ereignet und Hegel nahm die zerstörerische Dimension des revolutionären Terrors wahr. „Ist das nicht unsere heutige Situation?“ fragt der slowenische Philosoph.

Marx lebte in einer vorrevolutionären Zeit, erkannte die Widersprüche in der bestehenden Gesellschaft und sah in der kommunistischen Revolution eine Möglichkeit, sie zu lösen. Hegel möchte am emanzipatorischen Erbe der französischen Revolution festhalten. „Die kapitalistische Gesellschaft wirkt zunehmend selbstzerstörerisch und die im 20. Jahrhundert unternommenen kommunistische Versuche sind alle fehlgeschlagen, haben sich in Albtraum und Terror verwandelt,“ so Žižek, der die Problemlösung in einer Synthese von Hegel und Marx sieht:„Wie können wir das Erbe des Kommunismus und der radikalen Emanzipation retten, ohne erneut in einen Terror zu geraten?“
Slavoj Žižek, geboren 1949 in Ljubljana, lehrt und forscht u.a. an der European Graduate School und am Birkbeck College der University of London. Neben der Philosophie des Deutschen Idealismus setzte er sich mit zeitgenössischen Denkansätzen aus dem Bereich des Poststrukturalismus, der Medientheorie, des Feminismus und der Cultural Studies auseinander. Seine erste englischsprachige Buchveröffentlichung „The Sublime Object of Ideology“ erschien 1989. Seitdem veröffentlichte Žižek über 20 Monographien, in denen er sich zunächst um eine psychoanalytische Lesart der Philosophie, der Populärkultur und in den letzten Jahren auch der Politischen Theorie bemühte. Sein Werk wird als kreative Zusammenführung von Hegels Dialektik, Marx’ Politischer Ökonomie und Lacans Psychoanalyse aufgefasst.

Seit zwei Jahrhunderten befindet sich die westliche Philosophie unter Hegels Einfluss. Žižek bemüht sich erst gar nicht, aus diesem Schatten herauszutreten. „Die Moderne hat mit Hegel begonnen, und sie wird mit ihm enden.“ In seinem nun vorliegenden, von Einsichten und Ideen nur so überquellenden Buch, das 1400 Seiten umfasst, wird hegelianischer gedacht als bei Hegel selbst, es ist voller Analogien und – wie bei diesem Denker nicht unüblich – voller Abschweifungen und funkelnder Sentenzen. Die Kernidee des Buchs lautet, „die Zeit des Deutschen Idealismus“ sei der „einzige Schlüssel (…), um die gesamte vorausgegangene und nachfolgende Tradition überhaupt als Philosophie lesen zu können“. Als Grund gibt er an, dass wir bereits seit Kant „die Realität“ gar nicht „als absolutes Ganzes“ begreifen können, von daher auch nicht mehr annehmen sollten, es gebe ein allumfassendes Ganzes.

Der Philosoph gibt keineswegs die Parole aus: Zurück zu Hegel! Wir müssen mit Hegel durch Hegel hindurch, um mit ihm, allerdings unter völlig anderen historischen Bedingungen, die Brüche, Verwerfungen und Lücken zu verstehen und Kritik üben zu können. Ziel ist es, Hegels radikal emanzipatorisches Projekt für das 21. Jahrhundert zu retten. So wird in diesem vierteiligen Werk nicht nur Hegel gelesen, sondern auch die Bereiche von Philosophie, Kunst und der modernen Physik, seine Vorgänger (Platon, das Christentum und Fichte), seine Nachfolger (Marx, Badieu), die Quantenphysik und vor allem sein großer Wiedergänger in der Psychoanalyse, Jaques Lacan.
Mit der Lacanschen Brille werden die Texte Hegels neu interpretiert und der Leser gerät zuweilen ins Staunen, wie sehr an der Absurditätsschraube gedreht wird, etwa durch. Žižeks Lust, der Sprache alle Selbstverständlichkeiten auszutreiben. Das Weithergeholte der Interpretation, die Bezüge zur Quantenphysik, Theologie und Psychoanalyse kippt manchmal in scheinbar heillose Abstrusität, – aber oft genug auch in neue befreiende Erkenntnis um. Schon ein monumentales Buch mit seinen schier endlos verzwickten Hegelinterpretationen „Weniger als nichts“ zu nennen, verrät Sinn für Humor, der philosophisch geneigte Leser weiß, dass es sich hier um einen diskreten Hinweis auf Demokrit und sein Atommodell handelt. Der Begriff des „Ichts“, den der antike Materialist, erfand, übersetzt mit „Weniger als nichts“. Erkunden will er dieses „Weniger als nichts“ nicht im symbolischen Kosmos der modernen Physik, sondern in unserer Realität, in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Deren Negation bildet den Ausgangspunkt für Veränderung, die Aufmunterung, noch einmal neu zu beginnen.

Ende letzten Jahres ist ein Suhrkamp-Band erschienen, der den Titel „Žižek’s Jokes – Treffen sich zwei Hegelianer“ trägt, und bei seiner Entstehung wohl von Ludwig Wittgensteins Überlegung getrieben wurde, „man könnte ein ernsthaftes und gutes philosophisches Buch schreiben, das nur aus Witzen besteht.“ Mal geht es in dem Band zotig zur Sache, mal provozierend. Die Grenzen des guten Geschmacks häufig überschreitend, sollen die Pointen wohl in aphoristischer Form seine Kerngedanken zu Dialektik, Ideologie und Psychoanalyse vermitteln. Einige der Witze haben allerdings schon ihr Haltbarkeitsdatum überschritten, andere sind einfach geschmacklos. Sie haben früher in anderen Kontexten gestanden, und dort waren sie wohl besser verblieben. Glänzende Aphorismen jedenfalls sind aus anderem Stoff gemacht, die Witze er weisen sich oft als witzlos.

Žižek erzählt, dass ein „versnobter Volltrottel“, um seinen ramponierten Ruf wiederherzustellen, in einem französischen Restaurant beschließt, dem Kellner nicht auf Französisch eine gute Nacht zu wünschen („Bonne nuit“), sondern auf Lateinisch „Nota bene!“ Zizek fragt sich, ob die meisten Dialoge in der Philosophie nicht ganz ähnlich ablaufen, „besonders dann, wenn ein Philosoph einen anderen kritisieren will? Ist Aristoteles‘ Kritik an Platon nicht eine Aneinanderreihung von „Notabenes“? Ganz zu schweigen von Marx‘ Kritik an Hegel? Und so weiter und so fort?“ Dem kann der Autor dieser Zeilen nur zustimmen. – Dieter Kaltwasser

Literaturhinweise:

Slavo Žižek: Weniger als nichts – Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus, Suhrkamp, 1408 S., 49,95 EUR.

Žižek‘ Jokes – Treffen sich zwei Hegelianer…, Suhrkamp, 158 S., 7 EUR.

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