Ob Anti-Stress-Yoga, Work-Life-Balance-Strategien, Power-Sleeping, Achtsamkeits- training oder ein Crashkurs in Effektivitätstechnik – Gebrauchsanweisungen mit Patentlösungen für den richtigen Umgang mit der Zeit gibt es viele. Meist folgen sie immer der gleichen Logik: Optimiere dich selbst, dann bekommst du deine Probleme in den Griff! Aber Vorsicht: Werden so nicht die Ursachen von Stress- und Erschöpfungssymptomen den Betroffenen allein in die Schuhe geschoben, anstatt ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen kritisch zu hinterfragen? Und versteckt sich nicht auch hinter der Forderung nach Entspannung und Loslassen das allgegenwärtige Diktat der Leistungssteigerung?
Ruhelosigkeit und Ausgebranntsein, Unsicherheit und Überforderung im Job werden kurzerhand zu persönlichen Anpassungsstörungen erklärt. Die medizinischen Fachausdrücke dafür gibt es schon längst: ADHS, Burnout und chronisches Stresssyndrom heißen die neuen Volkskrankheiten, die scheinbar epidemisch um sich greifen. Und ist erst einmal ein Krankheitsbild definiert, können auch schon die Reparaturarbeiten beginnen. Daran verdienen die Medizin, die Pharmaindustrie und ein Heer von Therapeuten und Coaching-Experten. Es soll hier nicht in Zweifel gezogen werden, dass die verschiedenen Therapieansätze oft hilfreich sind. Das Problem ist nur: Symptome wie Nervosität, Freudlosigkeit, Antriebsschwäche, Angst, Sorge und depressive Verstimmungen sind nicht immer ein Zeichen von Krankheit und fehlender Anpassung. Und es kann nicht immer die Lösung sein, sie einfach weg zu therapieren.
Der Sozialwissenschaftler Götz Eisenberg weist zu Recht daraufhin, dass es durchaus gesund sein kann, wenn jemand gestresst, ängstlich oder resigniert auf seine Umwelt reagiert. Mit Blick auf die deutsche Geschichte vor etwa 75 Jahren betont er, dass es gerade die damals aufrechterhaltene Funktionstüchtigkeit und Anpassung vieler Deutscher gewesen sei, die uns heute als erklärungsbedürftiges Phänomen und Krankheitssymptom erscheine.
Überträgt man diese Überlegung auf die neuen Krankheitsbilder ADHS, Burnout & Co, so drängt sich die Frage auf, ob wir es dabei nicht eher mit natürlichen und durchaus angemessenen Reaktionen auf unzumutbare Umweltbedingungen zu tun haben als mit Krankheiten. Schließlich korrelieren die genannten Verhaltensauffälligkeiten in signifikanter Weise mit dem Diktat von Deadlines, Multitasking und Dauererreichbarkeit. Wir sind Getriebene in einer atemlosen Gesellschaft und gefangen in einer Spirale der Beschleunigung, die sich keineswegs nur auf die technologische Entwicklung beschränkt. Es gibt eindeutige Hinweise dafür, dass sich die Zeitstrukturen im Alltag moderner europäischer Gesellschaften gravierend verändert haben. So beeilen wir uns – wie die Studien von Manfred Garhammer zeigen – vor allem beim Essen und bei der Körperpflege und schlafen etwa zwei Stunden weniger als noch im 19. Jahrhundert. Auch wird heute deutlich weniger mit der eigenen Familie kommuniziert als früher.
Längst haben sich auch Soziologen der Zeitknappheit angenommen und neue Gesellschaftsdiagnosen formuliert, die sich alle mit dem Phänomen „Beschleunigung“ befassen. In seinem vielbeachteten Buch „Der flexible Mensch“ untersucht der amerikanische Soziologe Richard Sennett die Arbeitsbedingungen eines neoliberalen Turbokapitalismus, in denen langfristige und loyale Beziehungen durch kurzfristige, projektbezogene und jederzeit revidierbare Arbeitsverhältnisse ersetzt werden. Der Arbeitsalltag wird durch wachsende Leistungsanforderungen geprägt, gleichzeitig werden permanente Verfügbarkeit und Risikobereitschaft erwartet. Werte wie Loyalität, Solidarität und Zugehörigkeit verlieren kontinuierlich an Bedeutung, was gravierende Folgen für die Persönlichkeit des Menschen hat. Das Leitbild der Flexibilität führt schließlich zu Bindungslosigkeit und Kontrollverlust über das eigene Leben. Menschen, die unter solchen Bedingungen arbeiten müssen, fühlen sich zunehmend ausgepowert, austauschbar, einsam und orientierungslos. Diese Gefühle zuzugeben schaffen jedoch nur wenige, denn auf wessen Solidarität könnten sie sich in einem Klima der Konkurrenz und Kälte auch verlassen? Gefragt sind stattdessen Durchhalteparolen und Anleitungen zu effektiverem Selbstmanagement. Oder man kompensiert den aufgestauten Frust in Konsumtempeln und Fitness-Studios. „Yes we can“ lautet die Devise, denn wir leben in einer Diktatur des „positive thinking“. Persönliches Scheitern – so Sennett – ist in unserer Gesellschaft das größte Tabu.
Während sich Sennetts Analyse weitgehend auf die moderne Arbeitswelt beschränkt, hat der deutsche Soziologe Hartmut Rosa eine monumentale Theorie zur Beschleunigung vorgelegt, die alle gesellschaftlichen Lebensbereiche umfasst. Demnach ist die Beschleunigung bei Weitem nicht nur technischer Natur, sondern das zentrale Phänomen unserer Zeit. Sogar die sozialen Kerninstitutionen Ehe und Familie sind davon betroffen, denn wie es um deren „Haltbarkeit“ bestellt ist, zeigen die aktuellen Scheidungsraten und die steigende Zahl von Patchworkfamilien.
Ebenso zerfällt das moderne Berufsleben zunehmend in Fragmente aus Zeitverträgen, Mini-Jobs und Dauerpraktika, die langfristige Lebensentwürfe kaum noch zulassen. Während früher ein Beruf vom Vater an den Sohn weitergegeben und über mehrere Generationen ausgeübt wurde, war es bis vor kurzem zumindest noch üblich, dass eine einmal eingeschlagene berufliche Laufbahn ein ganzes Erwerbsleben lang Bestand hatte. Heute hingegen sind ständige Jobwechsel an der Tagesordnung. Rosa entdeckt auch im Sprachgebrauch Belege für diesen Wandel: Z. B. antwortet man auf die Frage nach dem Beruf heute nicht mehr mit „ich bin Bäcker“, sondern sagt „ich arbeite als Bäcker“. Dies sind zwei völlig verschiedene Aussagen.
Rosa weitet seine Beschleunigungsthese auch auf das Freizeitverhalten moderner Gesellschaften aus. Für den paradoxen Effekt etwa, dass uns durch die rasante technische Entwicklung eher weniger als mehr Zeit zur Verfügung steht, findet er eine eingängige Erklärung: Schuld sind die Unersättlichkeit und der Anspruch des modernen Menschen, möglichst viele Optionen aus der unendlichen Palette von Möglichkeiten zu realisieren, die die Welt ihm eröffnet. Und da die Zahl der Optionen kontinuierlich steigt, wird das Verhältnis der gemachten Erfahrungen zu denjenigen, die wir nicht machen, kleiner statt größer. Das kann zu echtem Stress führen.
Aber sind die vielen Möglichkeiten, die wir heute im Vergleich zu früher haben und die Dynamisierung des Alltags per se etwas Schlechtes? Steckt in der Beschleunigungskritik nicht eine naive Romantisierung vergangener Zeiten? Eigentlich könnten wir doch froh sein, dass die Waschtage von früher Vergangenheit sind und dass wir heute nur noch einen Bruchteil der Zeit brauchen, um von A nach B zu kommen. Wären wir tatsächlich glücklicher, wenn wir weniger Wahlmöglichkeiten hätten? Nein, nicht wirklich. Rosas Kritik richtet sich aber auch nicht gegen die Wahlmöglichkeiten an sich, sondern vielmehr dagegen, dass sie zum Selbstzweck geworden sind. Es ist die „Steigerungslogik der Moderne“, die sich verselbständigt hat und die uns krank macht, weil sie verhindert, dass wir uns feste und langfristige Ziele setzen, die wir erreichen wollen und mit denen wir uns identifizieren. Stattdessen driften wir in einer Art Seitwärtsbewegung vor uns hin. Und solange wir in einem Wirtschaftssystem leben, das ausschließlich auf Wachstum setzt, wird unser Lebenstempo auch weiterhin unweigerlich steigen.
Aber es gibt auch Anzeichen für eine Trendwende: Denn inzwischen hat es sich herumgesprochen, dass die Mär vom grenzenlosen Wachstum im krassen Widerspruch zur Endlichkeit unserer natürlichen Ressourcen steht. Zudem lässt sich die himmelschreiende Ungerechtigkeit bei der globalen Verteilung des materiellen Wohlstands wohl kaum dauerhaft aufrechterhalten. Oder doch?
Wie auch immer diese Frage entschieden wird – was können wir konkret tun außer abzuwarten, bis der Wachstums- und Beschleunigungswahn von selbst kollabiert? Wir können – ohne zum Totalausteiger zu werden – zumindest unsere eigenen Automatismen und Denkblockaden hinterfragen und dem verinnerlichten Beschleunigungszwang entgegentreten. Hartmut Rosa gibt dazu die Empfehlung, sich bewusst persönliche „Zeitinseln“ einzurichten, die frei von dem Gefühl sind, ganz viel auf einmal machen zu müssen. Karen Salmansohn – ehemals Creative Director in einer New Yorker Werbeagentur – geht noch einen Schritt weiter. Ihr Buch trägt den Titel: „Wie man sein Leben ändert, indem man absolut nichts tut.“
Ein Anfang ist gemacht, wenn wir beginnen, einmal über unsere eigenen Wertmaßstäbe nachzudenken. Denn es ist doch so: Jemand, der viel freie Zeit hat, macht sich in unserer Gesellschaft bereits verdächtig. Zumindest läuft er Gefahr, als Außenseiter oder Langeweiler abgestempelt zu werden. Es ist allemal cooler, einen vollen Terminkalender zu haben. Und vielleicht gehören wir auch zu den Leuten, die sich nur deshalb über ihren Freizeitstress beklagen, weil sie damit auf kokette Weise ihren hohen Aktivitäts- und Beliebtheitsgrad demonstrieren wollen. Es liegt immer noch eindeutig im Trend, keine Zeit zu haben. Und viele wollen auch gar keine Zeit haben, denn sonst könnten sie zum Nachdenken über sich selbst kommen.
Katharina Eusterbrock