Von Diana Zulfoghari – Durst ist männlich. Gewöhnliche Kneipen sind geschlechtslos. Ein Ding. Das. „Gehen wir noch ins Durst?“ wäre ein Sakrileg. Der Durst! Wir gehen in den Durst. Verstanden? Wenn nicht – der Professor erklärt‘s der Unkundigen: „Wegen Flann O`Brien!“ Flann wie? Gerade komme ich mir vor wie eine Oberschülerin, die sich in eine Studentenkneipe getraut hat… Ich Ahnungslose weiß also nichts von O’Briens wegweisender Erzählung „Durst“?!
Flann O’Briens Einakter enthüllt das Geheimnis um den tieferen Grund des Trinkens: Durst. Wenn freilich bereits Sperrstunde ist und ein Polizist neben dem Tresen steht, dann bedarf es wahrhaft glühender Schankwartsphantasie und Fabulierkunst, um selbst die stoische Beherrschtheit des Sergeanten zum Verdampfen zu bringen: „Sie marschierten und gingen und krochen übereinander und aufeinander herum: jeder Mann so trocken wie ein Ziegel, und die Zunge in seinem verdorrten Maul so angeschwollen, dass sie ihn halb erstickte. Mein Gott, der Durst!!!!“ (Klappentext CD, gelesen und übersetzt von Harry Rowohlt)
Guido, der Wirt, den die Stammgäste Professor nennen oder kurz und gut „Proffi“, weiß jedenfalls, wie man professionell gegen den Durst vorgeht. Mit Bier. Nicht nur Kölsch, nein – auch Guinness oder Budweiser; wenn sich zum Durst noch Weltschmerz gesellt, mag die reiche Whiskeyauswahl ihn lindern. Single Malt.
Kein Hugo, keine Grüntee-Wellness-Schorle, kein Soja-Latte, nicht mal Kaffee
Durst ist männlich. Und alkoholfrei? Wasser. Der Mann aus Moskau, der gerade noch mit mir anstoßen wollte, verzieht angewidert das Gesicht. Wasser trinken! Ist der Durst eine Kneipe oder ein Krankenhaus? Kaschemme ist der Ehrentitel für Trinkstätten, die sich über Jahrzehnte treu geblieben sind. Aus der Zeit gefallen. Und aus der bösen, kriegerischen Welt. Durst, eine winzige Insel, auf der alles genauso ist, wie es aussieht. Echt. Der Ozean von Werbung und Konsum spült seine Schiffbrüchigen gnädig an den rettenden Tresen. Ja, der Wirt schreibt an. Bei manchen Gästen bis weit in den dreistelligen Bereich. Nach Gefühl. Und Menschenkenntnis. Abdul, der eben noch über die Nebeneinkünfte der Bundestagsabgeordneten räsonierte, hält inne: „Hier hab ich Deutsch gelernt.“ Als er vor 16 Jahren kam. Im Durst wird geredet. Keiner guckt auf sein Handy. Gibt es wirklich Smartphones? Oder werden die erst noch erfunden? Gerechnet wird auf Bierdeckeln. Konsens ist Kacke, hier zählt Klartext. Jeder hat eine Meinung! Mindestens eine… Hochmut wirft mir ein Typ vor, der Che Guevaras Look kultiviert und auf verschränkten Armen vor sich hin döst. Geistigen Hochmut. Spricht‘s, schlägt mein Notizbuch zu und dreht sich um, als hätte ich ihn in seinem Schlafzimmer gestört. Ich korrigiere – der Durst ist eine Haltung. Die man nicht in einer halben Stunde erfassen kann. „Du hast gar nichts verstanden!“, murmelt der Revolutionär. Stimmt, ich bin nüchtern. Und selbst in dieser tropischen Nacht nicht durstig. Durst ist männlich. Wie lange bin ich nun schon hier? Die Augen gewöhnen sich an die spärliche Beleuchtung. Jetzt sehe ich, dass von der Decke ein FC-Wimpel hängt. Jede Dekoration scheint ein Versehen zu sein. Durst ist die Reduktion von Kneipe. Das Notwendige – Tresen, Hocker, Stehtische – auf wenigen Quadratmetern zur Essenz eingekocht. Im Nebenraum ein Kicker. Knobeln an der Theke geht auch. Kein Daddelkasten, kein Dartspiel. Durst ist düster.
Die Wände braun. Hier wird nicht gelüftet, hier wird nicht getanzt. Wie viel Höhlenmensch steckt noch in jedem von uns? Falls in einer der Ecken Darwin höchstpersönlich säße, würde es mich nicht wundern. Oder ist das dort Hemingway? Der Durst ist maskulin, doch auch der trostreiche Busen, an den man(n) sinkt, sobald der Tag der Dunkelheit weicht. Dann ist die Durststrecke überstanden. Endlich!
„Suche 1-2 Zimmer in Durstnähe, Eigelstein, Agnes oder Kunibert; Größe egal“
Der handgeschriebene Zettel klebt gut sichtbar an der Wand. Die meisten Gäste wohnen in der Nachbarschaft. Früher war das hier ein übles Viertel, der Laden selbst eine Animier-Bar mit leichten Mädchen. Ein Schwarzweiß-Foto aus den frühen 70ern hängt gerahmt neben der Tür. Dienstags legt der Chef selber auf. Vinyl! Zwei Plattenspieler, ein Mischpult – so muss das sein… Musik wie Bier und Whiskey – ein bisschen Blues, ein bisschen Groove, doch eher Soul? „Ich komm von der anderen Rheinseite. Jeden Dienstag. Wenn Proffi auflegt, wegen der Musik!“, sagt die einzige Frau am Tresen. Ich nicke. Recht hat sie, der Sound geht runter wie Öl. Jeden Montag schreibt Jürgen einen neuen Spruch mit Kreide an die Wand. Diese Woche ein Feuerbach-Zitat. Über Aberglauben. Daneben pappt ein winziger Zettel, nur bei genauem Hinsehen zu entziffern: Superbia – Avaritia – Invidia – Ira – Luxuria… Die sieben Todsünden. Auf Lateinisch! Avaritia… Hatte mir heute nicht schon jemand Hochmut vorgeworfen?! Ein Initiationsritus? Muss man alle sieben an einem Abend schaffen, um zum engsten Kreis zu zählen? Nee, Völlerei nicht – im Durst gibt‘s nichts zu essen. Was macht eine Kneipe zur Kultstätte? Dass sie in Büchern, Hörspielen und Kunstwerken vorkommt? Guido zuckt die Schultern. Es ist so, der Durst ist Kult. Egal warum. Klaus erzählt von New York, wo er gelebt hat, und von der Kultkneipe dort… So ähnlich wie der Durst. Sozialistisch. Die Illusion, dass wir alle gleich sind – vor dem Tresen. Richtig, der Durst ist nicht kölsch. Diese nächtliche Insel könnte London sein oder Liverpool, Amsterdam oder Arnheim. Überall vom Aussterben bedroht. Gentrifizierung. Wie lange dauert es, bis der letze Laden einer Filiale Erlebnis-Gastronomie weicht? Der Gedanke stimmt die Versammlung am Tresen etwas wehmütig… Man sollte den Durst unter Artenschutz stellen. Die Kneipe als kulturelles Erbe für die Nachwelt erhalten. In diesem Sinne, meine Herren… Ich schäle mich vom Barhocker, gucke auf die Uhr: gleich halb vier. Was, ich war vier Stunden hier? Kann gar nicht sein. Der Durst ist männlich, die Zeit weiblich.
Durst
Weidengasse 87, 50668 Köln, Deutschland – Kein Webauftritt – könnte auslaufen