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Anne Franks Vermächtnis

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Von Bettina Johl – Alles begann mit dem Tagebuch des jüdischen Mädchens, geschrieben im Versteck eines Amsterdamer Hinterhauses, in das sie und ihre Familie zusammen mit einer weiteren 1942 vor den Nachstellungen der Nazis geflüchtet waren. Acht Menschen, die dort fast zwei Jahre in Enge, Angst und Ungewissheit zubrachten, um schließlich im August 1944 verraten, verhaftet und deportiert zu werden. Anne Frank starb im Februar oder Anfang März 1945 im KZ Bergen-Belsen, wohin sie im Zuge eines Rücktransports aus Auschwitz-Birkenau gelangt war, an Typhus und Entkräftung. Sie wurde nur fünfzehn Jahre alt. Ihre Aufzeichnungen, von Helfern gefunden und verwahrt, sind uns erhalten geblieben.

Wie ging ein junges, lebhaftes Mädchen wie Anne mit den extremen Bedingungen, die das Untertauchen mit sich brachte, um? Sie behalf sich mit Lesen und Lernen. Es gab Bücher und Zeitschriften im Versteck, Helfer sorgten für Nachschub. Und sie schrieb. Ausgestattet mit scharfer Beobachtungsgabe verarbeitete sie ihre Eindrücke, Gedanken, Gefühle und Konflikte in ihrem Tagebuch. Dieses hatte sie begonnen, als sie noch ein fast normales Leben führte, das in Wirklichkeit längst überschattet war von Diskriminierungen und Einschränkungen: Verzicht auf das geliebte Eislaufen, Kinobesuche, Betreten öffentlicher Anlagen und nichtjüdischer Geschäfte, Benutzen von öffentlichen Verkehrsmitteln, dann auch auf Fahrrad fahren, Draußen-Sein nach Einbruch der Dunkelheit und zuletzt gar den Besuch der Schule.

Anne hatte in ihrem Schreiben einen Weg gefunden, sich auszudrücken. Sie entwickelte wachsende sprachliche und stilistische Fertigkeit, erkannte ihr offensichtliches Talent als Berufung und träumte von einer Zukunft als Journalistin. Inspiriert durch einen Aufruf des Exilsenders Radio Oranje hatte sie sich mit dem Gedanken an eine spätere Veröffentlichung ihrer Aufzeichnungen getragen und hierzu in sorgfältiger Arbeit begonnen, Teile ihres Tagebuchs umzuschreiben und aufzubereiten.

Die im Fischer Verlag seit 2013 vorliegende Gesamtausgabe vereint erstmals alle Versionen des Tagebuchs, die „Geschichten und Ereignisse aus dem Hinterhaus“ sowie weitere Erzählungen und ein Romanfragment. Diese geben einen eindrucksvollen Einblick in ihr vielseitiges Schaffen während der Jahre im Versteck. Ergänzt wird die Sammlung durch Briefe, Albumeinträge, Fotos und Dokumente sowie ihr „Schöne-Sätze-Buch“, bestehend aus Texten, die sie meist aus geliehenen Büchern abgeschrieben hatte, zum Beispiel aus denen von Goethe und Shakespeare. Zentrale Themen ihrer Auseinandersetzung mit der jeweiligen Lektüre sind Fragen um die Freiheit des Denkens und Handelns, soziale Gerechtigkeit, Glaube und Religion, Tod, Verlust, Trauer, Freundschaft, Rollenfindung und die Bedeutung des Schreibens.

Berührend die erstmals vorliegenden frühesten Aufzeichnungen aus ihrem ersten Tagebuch. Hier begegnen wir dem schutzlosen Kind Anne – ganz verschieden von dem überarbeiteten Rückblick einer seelisch gereifteren Fünfzehnjährigen – und wir spüren bei aller Frohnatur das Unglück und die Verzweiflung dieses Kindes, das Opfer eines beispiellosen Verbrechens wurde, welches als Einzelschicksal stellvertretend steht für geschätzte eineinhalb Millionen Kinder unter sechs Millionen Menschen, die dem Genozid der Nazis zum Opfer fielen, die keine Stimme hatten, keine Gelegenheit, sich mitzuteilen, allesamt auf unvorstellbare Weise ihrer Würde beraubt, gequält, erniedrigt und bestialisch ermordet. So viel zu der möglicherweise ernst gemeinten Frage, ob man nicht irgendwann aufhören dürfe, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Nein, man darf nicht!

Sobald ein solches Einzelschicksal aus der Anonymität heraustritt, haben wir es nicht mehr mit abstrakten Zahlen zu tun, die zu unglaublich sind, um sie fassen zu können, sondern mit Menschen, die dachten und fühlten wie wir. Dann fallen unmenschliche Gedankengebäude, die auf Ausgrenzung und Abspaltung gründen, in sich zusammen. Dies erklärt auch die Anfeindungen, denen eben solche persönlichen Dokumente ausgesetzt sind, die Diffamierungen und Versuche, deren Authentizität zu leugnen.

Anne war ein Kind, das keinen größeren Wunsch hatte, als wieder zur Schule gehen, Freunde treffen und sich in freier Natur bewegen zu können. Ihr Zukunftstraum, eine große Autorin zu werden, hat sich posthum erfüllt, ihr Tagebuch gehört zur Weltliteratur. Aber nichts kann ihr das eine Leben zurückgeben, das ihr gegeben war und das sie gern weitergeführt hätte, das ein jeder Mensch nur einmal zur Verfügung hat, und das deshalb Schutz und Achtung verdient. Der Anne Frank Fonds in Basel hat es sich zur Aufgabe gemacht, sich gemeinsam mit UNICEF für die Rechte der Kinder in aller Welt stark zu machen. Es ist auch Anne Franks Vermächtnis an uns.

Anne Frank: Gesamtausgabe. Tagebücher, Geschichten und Ereignisse aus dem Hinterhaus, Erzählungen, Briefe, Fotos und Dokumente. Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler. S. Fischer Verlag. 816 Seiten, 28 EUR

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